OBSIDIAN oder die Vulkane im Monde (project)
Wer die künstlerische Entwicklung von Juliet Vles in den letzten zwanzig Jahren verfolgt hat, ist mit ihrem Konzept des pictural web vertraut. Eine Ausstellung dieser Künstlerin zu besuchen heisst, sich auf einen Parcours einzulassen, der zahlreiche Aspekte eines Motivs in sich vereint - Ethik und Ästhetik, Spiritualität und Materie, Archetypus und Science Fiction, Dokumentation und Abstraction - nicht in einem simplen kausalen Zusammenhang, sondern in einem spinnennetzähnlichen System freier Assoziationen, das dem Betrachter einiges an geistiger Flexibilität abverlangt.
Jeder neue Zyklus der Künstlerin steht für sich selbst, aber ist immer auch Teil dieses individualmythologischen Kontinuums, das inzwischen einen Zeitraum von über vierzig Jahre umspannt. Das gilt insbesondere für ihre aktuelle Arbeit zu den «Vulkanen im Monde», ein Langzeitprojekt, dessen wissenschaftlicher, politischer und mythologischer Kontext zu einem vlessianischen arteverse verwoben wird.
«Obsidian» ist die Legende von imaginären Vulkanen in einer imaginären Mondlandschaft – Sinnbild einer dem menschlichen Gehirn nur bedingt zugänglichen Wesenheit, vergleichbar dem Ozean in Stanislav Lem’s Solaris. Als Gegenpol zur kulturellen Unterhaltungsindustrie entsteht hier eine futuristische Freistatt der Ruhe und Kraft, Erhabenheit und Spiritualität, die sich gleichzeitig jeder elitären, faschistoïden oder religiösen Vereinnahmung entzieht.
Der Titel der Werkgruppe bezieht sich auf ein exposé von Immanuel Kant ( «Über die Vulkane im Monde», 1783), der nach der Entdeckung von Mondkratern durch den Astronomen Wilhelm Herschel über die mögliche Existenz von Vulkanen im Mond spekulierte – übrigens mit mehr künstlerischer Freiheit als wissenschaftlicher Präzision.
Obsidian ist ein schwarzes vulkanisches Glas, das aus schnell abgekühlter Lava entsteht. Es wird auch als schwarzes Glas bezeichnet und wurde früher für die Herstellung schwarzer «magischer» Spiegel verwendet. Benannt wurde es nach dem Römer Obsidius, der das Lavaglas auf seinen Reisen in Äthiopien entdeckte. Vles verwendet bewusst diesen Namen und nicht die pittoreske Begriffe «Dragon Glass» oder «Ravensbrain» der isländischen Sage, um den kolonialen Zusammenhang zu unterstreichen. In einer Zeit, in der die woke Bewegung gerade erst begonnen hat, die oft dramatischen Folgen des interkontinentalen Kolonialismus kritisch zu analysieren, bereiten unsere technokratischen Eliten, mit der gleichen Unbedarftheit wie ihre imperialistischen Vorfahren, bereits die Kolonialisierung des Mondes und anderer Planeten vor, ohne sich Gedanken über die Verwüstungen zu machen, die die menschlichen Invasoren dieses Mal anrichten werden.
Das Projekt aus diesem Grund als «zeitkritisch» oder «politisch» zu beschreiben wäre allerdings eine unzulässige Reduktion. Wie das gesamte abstrakte Werk der Künstlerin ist der Vulkan-Zyklus vor allem als Metapher einer spirituellen Wirklichkeit zu verstehen, die sich der analytischen Beschreibung entzieht und nur intuitiv erfasst werden kann. Das hat nichts Metaphysisches, sondern ist der künstlerische Ausdruck einer ethisch definierten Daseinsutopie, die offensichtlich das Ziel der menschlichen Evolution ausmacht – immer vorausgesetzt, die Menschheit überlebt lange genug, um ihre evolutionäre Bestimmung zu verwirklichen…
Materialtechnisch bestehen die Wandskulpturen der Obsidian Serie aus bemalten Holzkonstruktionen, in denen die schwarzen Glas-oder Plexiglasplatten wie Intarsien eingelegt werden. Dabei werden die Glasplatten zunächst in einer von der Hinterglasmalerei abgeleiteten Technik auf der Rückseite bearbeitet und dann mit der spiegelnden Seite nach oben im Holzchassis eingelegt, so dass ein deutlicher Kontrast zwischen dem glänzenden Reflex des schwarzen Glases und der matt bemalten Oberfläche des Holzes entsteht.
Ergänzt wird die Werkgruppe durch Skulpturen und Wandskulpturen der «Ashen» Serie, grossformatige, aschengraue, schriftübersäte Strukturen, die sowohl ihre logische Fortsetzung schreiben als auch einen ästhetischen Kontrapunkt zu den farbintensiven Vulkanbildern setzen.
Leon Taveling «Lunar Lyrics» 2023 (extract)
ART PROJEKT Dies ist ein Kunstprojekt und die präsentierten Kunstwerke existieren nur als virtuelle Maquetten.
OBSIDIAN or the Volcanoes in the Moon
Anyone who has followed the artistic development of Juliet Vles over the last twenty years is familiar with her concept of the pictural web. To visit an exhibition by this artist is to embark on a course that unites numerous aspects of a motif - ethics and aesthetics, spirituality and matter, archetype and science fiction, documentation and abstraction - not in a simple causal relationship, but in a spider-web-like system of free associations that demands a certain amount of mental flexibility from the viewer.
Each new cycle of the artist stands on its own, but is always also part of this individual-mythological continuum, which now spans a period of over forty years. This is especially true of her current work on the "Volcanoes in the Moon", a long-term project whose scientific, political and mythological context is interwoven in the Vlessian arteverse.
«Obsidian» is the legend of imaginary volcanoes in an imaginary lunar landscape - emblematic of an entity only partially accessible to the human brain, comparable to the ocean in Stanislav Lem's Solaris. As an antithesis to the contemporary artistic industry of entertainment, a futuristic sanctuary of silence, power and spirituality is created here, which at the same time eludes any elitist, fascistoid or religious appropriation.
The title of the cycle refers to an exposé by Immanuel Kant ("On the Volcanoes in the Moon", 1783), who after the discovery of lunar craters by the astronomer Wilhelm Herschel speculated on the possible existence of volcanoes in the moon - incidentally with more artistic freedom than scientific precision.
Obsidian is a black volcanic glass formed from rapidly cooled lava. It is also called black glass and used to make black "magic" mirrors. It was named after the Roman Obsidius, who discovered lava glass during his travels in Ethiopia. Vles deliberately uses this name rather than the more pituresque terms "Dragon Glass" or "Ravensbrain" of Icelandic lore to emphasize the colonial context. At a time when the woke movement has only just begun to critically analyze the often dramatic consequences of intercontinental colonialism, our technocratic elites, with the same cluelessness as their imperialist forebears, are already preparing to colonize the moon and other planets, without a thought for the havoc the human invaders will wreak this time round.
To describe the project as "time-critical" or "political" would however be an inadmissible reduction. Like the artist's entire abstract oeuvre, the Volcano Cycle is to be understood above all as a metaphor of a spiritual reality that defies analytical description and can only be grasped intuitively. There is nothing metaphysical about this; it is the artistic expression of an ethically defined existential utopia, which obviously constitutes the goal of human evolution - always provided that mankind survives long enough to realize its evolutionary destiny...
In terms of materials, the wall sculptures of the Obsidian series consist of painted wooden structures in which the black glass or plexiglas plates are inserted like inlays. The glass plates are first processed in a technique derived from reverse glass painting on the back and then inserted with the reflective side up in the wooden chassis, to clearly delimit the shiny reflection of the black glass from the matte painted surface of the wood.
The cycle is complemented by sculptures and wall sculptures from the "Ashen" series, large-format, ash-grey structures covered in writing, which both write their logical continuation and set an aesthetic counterpoint to the color-intensive volcano paintings.
Leon Taveling «Lunar Lyrics» 2023 (extract)
ART PROJECT This is an art project and the presented artworks exist only as virtual maquettes.